JNG #324: Systematische Auslegung verstehen – mit dem BULLE-Prinzip

Lesezeit: 4 Minuten

Was genau heißt eigentlich »systematische Auslegung« – und wie nutzt man sie klug in der Klausur?

Viele Studierende wissen zwar, dass sie systematisch argumentieren sollen, sehen sich in der Klausur dann aber doch nur »die Norm davor und die danach« an, ohne was draus zu machen. Dabei steckt hinter der systematischen Auslegung ein ganzes Strukturprinzip.

In diesem Beitrag zeige ich dir ein Akronym an, das dir dabei hilft, systematisch zu argumentieren und die Struktur des Gesetzes sinnvoll zu nutzen: BULLE. Das Akronym steht für fünf Anforderungen, die an die Gesamtheit aller Rechtsnormen zu stellen sind. Und ja – »Bulle« ist dabei durchaus doppeldeutig: nicht nur eine provokante Merkhilfe, sondern auch korrekt im Sinne des kastrierten männlichen Rindes. Juristenhumor eben.

🧠 B wie Belastbarkeit – Das Recht soll widerspruchsfrei sein

Die erste Anforderung ist die Widerspruchsfreiheit des Systems. Die Gesamtheit der Rechtsnormen muss belastbar sein – das heißt: frei von inneren Widersprüchen.

Wenn du etwa bei der Auslegung auf scheinbar widersprüchliche Regelungen stößt, kannst du dich auf diesen Grundsatz berufen. Ein Beispiel ist der sogenannte Fräsmaschinen-Fall, bei dem es um den gutgläubigen Erwerb von Sicherungseigentum (§§ 933, 934 BGB) geht. Die Diskussion dreht sich darum, ob das »Sichtbarkeitsprinzip« – also die für § 933 BGB erforderliche Übergabe – bei § 934 BGB ebenfalls gilt.

Die Lehre vom mittelbaren Nebenbesitz möchte diesen scheinbaren Widerspruch auflösen. Sie behauptet, § 934 BGB verstoße gegen das o. g. Sichtbarkeitsprinzip. Wer jedoch den Grundsatz der Belastbarkeit ernst nimmt, muss davon ausgehen, dass ein solcher Widerspruch im Gesetz nicht existiert. Die Normen sind so auszulegen und zu verstehen, dass sie sich eben nicht widersprechen.

🧱 U wie Unverzichtbarkeit – Keine Norm ist überflüssig

Jede einzelne Norm soll ihren eigenen Anwendungsbereich haben – keine ist überflüssig. Gesetze sind also niemals redundant.

Ein praktisches Beispiel: Stell dir vor, du hast ein undichtes Fenster in deiner Mietwohnung. Weil dein Verhältnis zum Vermieter zerrüttet ist, lässt du es eigenmächtig von einem Handwerker für 200 € reparieren. Im Anschluss willst du dir das Geld vom Vermieter zurückholen – und berufst dich dabei auf § 536a Abs. 2 BGB.

Doch der Vermieter verweist auf die Voraussetzungen dieser Norm: Du hättest ihn zunächst informieren und in Verzug setzen müssen. Alternativ hätte es sich um eine unaufschiebbare Notmaßnahme handeln müssen. Beides liegt nicht vor.

Jetzt der Trick: Du versuchst, das Ganze über § 539 Abs. 1 BGB (»sonstige Aufwendungen«) zu lösen. Aber Moment – wenn § 539 Abs. 1 auch deinen Fall abdeckt, bräuchte man § 536a Abs. 2 doch gar nicht mehr. Das verstieße gegen das Postulat der Unverzichtbarkeit. Also muss § 539 Abs. 1 anders zu verstehen sein – nämlich als Auffangnorm für nicht-mangelbedingte Aufwendungen wie Schönheitsreparaturen. Auch hier hilft dir das systematische Denken weiter.

🧩 L wie Lückenlosigkeit – Keine Regelungslücken?

Das System des Rechts soll lückenlos sein – zumindest dem Anspruch nach. Natürlich ist es in der Praxis unmöglich, jede denkbare Konstellation vorherzusehen. Gesetze entstehen schließlich nicht am Reißbrett, sondern entwickeln sich mit der Zeit.

Dennoch: Bevor du analogisierst, solltest du prüfen, ob nicht eine tatsächlich vorhandene Norm durch extensive Auslegung zur Anwendung gebracht werden kann. Die Analogie ist immer ultima ratio – das letzte Mittel, wenn wirklich keine Norm passt. Das Prinzip der Lückenlosigkeit verpflichtet dich also dazu, zunächst alle anderen Möglichkeiten systematischer Auslegung auszuschöpfen.

🔄 L wie Logische Ordnung – Aufbau des Gesetzes nutzen

Gesetzestexte sind nicht willkürlich strukturiert. Sie folgen einer logischen Ordnung, die dir wichtige Hinweise auf Wertungen und Hierarchien gibt.

Ein klassisches Beispiel: der Streit um die Qualifikation von Mord und Totschlag. § 211 StGB (Mord) steht vor § 212 StGB (Totschlag). Manche leiten daraus ab, dass der Mord keine Qualifikation des Totschlags sein könne, sondern ein eigenständiger Tatbestand. Ähnlich bei den §§ 223/224 StGB oder den §§ 249/250 BGB: Erst kommt der Grundtatbestand, dann die Qualifikation. Diese systematische Reihenfolge kannst du zur Begründung heranziehen – und in ein sauber strukturiertes Argument umwandeln.

⚖️ E wie Einheit der Rechtsordnung – Alles muss zusammenpassen

Gesetze sollen nicht nur innerhalb eines Gesetzbuchs widerspruchsfrei sein, sondern über alle Rechtsgebiete hinweg. Die Rechtsordnung ist eine Einheit.

Ein Anwendungsfall: der Streit um den Vermögensbegriff im Betrugstatbestand (§ 263 StGB). Kann der Erlös aus einem sittenwidrigen Vertrag (etwa Drogenkauf) strafrechtlich geschützt sein?

Wenn man den zivilrechtlichen Maßstab zugrunde legt – und etwa § 817 S. 2 BGB berücksichtigt – dann muss die Antwort lauten: Nein. Denn was zivilrechtlich nicht schützenswert ist, darf auch strafrechtlich keinen Schutz genießen. Nur so wird der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gewahrt.

💡 Fazit: So nutzt du BULLE in der Klausur

Bevor du systematisch argumentierst, geh einmal im Kopf die fünf Prüfsteine durch:

  1. Belastbarkeit

  2. Unverzichtbarkeit

  3. Lückenlosigkeit

  4. Logische Ordnung

  5. Einheit der Rechtsordnung

Du musst sie nicht jedes Mal alle ausformulieren – aber sie helfen dir, scharfe, nachvollziehbare Argumente zu entwickeln.

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