JNG #265: Sachverhalte schneller und besser verstehen mit effektiven Notizen

 
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4 Minuten

Es ist gängige Praxis (in meinen Augen so gut wie immer ein Warnsignal 😂), Fälle »erst mal nur so« zu lesen, ohne sich gleich Notizen dazu zu machen. Ein selbst ernannter Experte auf YouTube empfiehlt gar, den Sachverhalt dreimal zu lesen und danach direkt eine Lösungsskizze zu erstellen. Wow. Diese Methoden erinnern mich an zweifelhafte »Tipps« kommerzieller Anbieter.

In dieser Ausgabe breche ich mal wieder eine Lanze für meine eigene Vorgehensweise und gebe dir sechs gute Gründe dafür, in der Klausur sofort nach Austeilen der Sachverhalte Stift und Papier zu zücken.

  1. Effizienzsteigerung und verbesserte Aufnahme von Informationen: Wenn du dir bereits beim ersten Lesen Notizen machst, reduzierst du schlicht die Notwendigkeit, den Sachverhalt dreimal zu lesen (s. o.). Das spart wertvolle Zeit – besonders unter Klausurbedingungen, wo jede Minute zählt. 
    Zudem förderst du eine aktive Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt. Nicht umsonst sind aufmerksames Zuhören und umformulierendes Mitschreiben effektive Möglichkeiten, die Informationsaufnahme zu verbessern. 
    Dunlosky et al. argumentieren, dass das wiederholte Lesen zu einer Kompetenzillusion führt, da die Vertrautheit mit dem Text fälschlicherweise mit einem tieferen Verständnis desselben gleichgesetzt wird​. Das wiederholte Lesen scheint jedoch keinen signifikanten Vorteil für das Verständnis von Konzepten zu bieten. Wir Menschen glauben oft, wir hätten etwas verstanden oder würden eine Materie beherrschen, nur weil wir damit vertraut sind. Das erklärt, warum wir oft meinen, wir hätten den Sachverhalt erfasst, obwohl wir ihn an manchen Stellen vielleicht sogar missverstanden haben.
  2.  Strukturierung des Sachverhalts: Sofortige Notizen helfen dir, den Fall zu strukturieren und die relevanten Informationen zu ordnen. Dabei musst du dich nicht auf eine Mindning-Tabelle beschränken; ein Personenschaubild sowie ein Zeitstrahl sind in ihrer spezifischen Funktion nicht zu unterschätzen.
  3.  Vorbereitung der Argumentation und Lösung: Durch das sofortige Notieren von aufgeworfenen Rechtsfragen kannst du schneller eine passende Argumentationsstruktur entwickeln. Sobald du deine Gedanken externalisiert hast, beginnt dein Unterbewusstsein mit der Informationsverarbeitung und ehe du dich versiehst, kannst du dir einen brauchbaren Ansatz aus den Fingern saugen.
  4.  Reduzierung des Risikos, Wichtiges zu übersehen: Beim wiederholten Lesen besteht die Gefahr, entscheidende Nuancen zu übersehen oder als unwichtig abzutun, weil sie dir beim ersten Durchgang durch die Lappen gegangen sind. Aus einem ähnlichen Grund rate ich übrigens auch davon ab, direkt beim ersten Lesen den gelben Textmarker hervorzuholen, weil das letztlich nur zu einer Voreingenommenheit mit Blick auf die Wichtigkeit der markierten Informationen führt. Der Grund liegt in einem Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): Beim Einsatz eines Textmarkers während des ersten Lesens neigt man dazu, Informationen zu markieren, die vorherige Annahmen bestätigen oder die wichtig erscheinen, was zu einer verzerrten Aufnahme der Informationen führt.
  5.  Verbesserung der Konzentration: Das Anfertigen von Notizen erfordert Konzentration und verhindert, dass deine Gedanken abschweifen. Gerade unter Prüfungsbedingungen ist es von Vorteil, wenn es dir gelingt, den Fokus aufrechtzuerhalten. Man kann einen Fall nur ein einziges Mal zum ersten Mal lesen. Dein persönliches Rechtsempfinden und deine rechtliche Intuition sind nur dieses eine Mal so stark. Glaub mir, wenn ich sage: Du denkst, du würdest dich in einer Viertelstunde noch an alles erinnern, was dir durch den Kopf ging. Aber das stimmt einfach nicht.
  6.  Schnellerer Zugriff auf Informationen während der eigentlichen Bearbeitung: Hast du einmal eine gute Basis an Notizen, kannst du während der Klausur schnell auf diese zurückgreifen, ohne den gesamten Fall erneut lesen zu müssen. Dies ermöglicht eine effizientere Nutzung der verfügbaren Bearbeitungszeit. Du hast alles auf einen Blick – Stichwort aus dem Sachverhalt, deine Assoziation dazu und die passende Norm.

Um dieses Vorgehen zu üben, empfehle ich dir, einen Blick auf meinen Videokurs »Probeklausuren endlich bestehen« zu werfen. Dieser Kurs ist darauf ausgelegt, dich durch realistische Klausurszenarien zu führen und dir die Techniken zu vermitteln, die du benötigst, um mehr Erfolg in deinen Probeklausuren – und natürlich vorrangig im Examen – zu haben.

 
Zusammenfassung:

Durch das sofortige Festhalten wichtiger Informationen und Rechtsfragen vermeidest du nicht nur die Gefahr, durch Kompetenzillusion oder Bestätigungsfehler wichtige Details zu übersehen, sondern strukturierst auch deine Gedanken klar und effektiv. Dies führt zu einer aktiveren, tieferen Auseinandersetzung mit dem Klausurmaterial, verbessert deine Konzentration und ermöglicht es dir, schneller auf notwendige Informationen zuzugreifen, was unter Zeitdruck entscheidend ist.

👉 Notizen schon beim ersten Lesen zu erstellen, mag zunächst ungewohnt sein. Je früher du beginnst, deine Lesegewohnheiten zu verändern, desto eher wird diese neue bessere Herangehensweise zur Normalität.

… und nun zum Einwand Nr. 1: »Aber dann mache ich mir ja unweigerlich auch überflüssige und später unbrauchbare Notizen, weil ich beim ersten Lesen noch gar nicht das Big Picture kenne?«

Vorab: Es ist wichtig, Notizen von vornherein so anzufertigen, dass du sie zu einem späteren Zeitpunkt anpassen kannst. Die ersten Notizen solltest du als Rohentwurf betrachten; beim zweiten Lesen kannst du sie überarbeiten, ergänzen und präzisieren. Der erste Griff zu Stift und Papier ist also nicht endgültig, sondern ein dynamischer Teil des gesamten Prozesses der Fallbearbeitung.

Und selbst wenn sich einige Notizen später als irrelevant herausstellen, ist die Extra-Zeit, die du beim ersten Lesen für das Notieren aufwendest, oft weniger bedeutend. Letztlich sparen nämlich diejenigen Zeit, die den Sachverhalt schon früh lückenlos erfasst haben. Nichts ist beunruhigender, als die ersten anderthalb Stunden deiner Examensklausur damit zu verbringen, wiederholt denselben Text durchzugehen.

Last but not least: Das Anfertigen von Notizen beim ersten Lesen trainiert auch dein juristisches Denken. Es zwingt dich, aktiv ein Gespür dafür zu entwickeln, wie Sachverhalte konzipiert sind – und diese Fähigkeit bildest du nur aus, wenn das Gesamtbild noch nicht vollständig klar ist. Mit zunehmender Erfahrung wirst du besser darin, relevante von irrelevanten Informationen zu unterscheiden und zutreffende Hypothesen zu formulieren. Ich mache seit zehn Jahren nichts anderes. Und Shirin wird wahrscheinlich auch nichts mehr an ihrer Vorgehensweise ändern:

 

Aktuelles YouTube-Video

In diesem Video-Podcast untersuchen wir, wie eine Ausweitung der Grundrechtsgeltung auf ausländische juristische Personen innerhalb der EU ermöglicht werden kann und ob sich ein solcher Schutz auch im Zusammenhang der Deutschengrundrechte erreichen lässt. 

 

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